Motke an Einsiedel

(Berlin, den 16. Juni 1940)

Lieber Einsiedel,

Wir sind uns über manche Dinge nicht klar geworden, weil wir dachten die Verhältnisse würden uns zur Hilfe kommen, und es uns ermöglichen, in der Praxis auszuprobieren, was wir theoretisch nicht recht faßten und vielleicht auch nicht fassen konnten. Heute ist die Lage anders. Die Verhältnisse werden uns nicht zur Hilfe kommen und wir werden sie erst meistern, nachdem wir uns über sie klar geworden sind und sie innerlich bezwungen haben. Wir sind von dem Umschwung noch soweit entfernt wie Voltaire von der französischen Revolution, als er es sich zur Übung machte seine Briefe mit den Worten zu schließen: écrasez l’infâme. Wie lange muß ihm damals der Weg erschienen sein, und wie kurz scheint er uns heute, der Weg zwischen geistiger Überwindung und tatsächlichem Umschwung. Damit muß man sich trösten und neu denken.

Zu der Organisation oder Planung der Wirtschaft habe ich eine Reihe von Fragen, die ich Dir gerne mit der Bitte um gelegentliche Beantwortung vorgelegt hätte. Mir scheint zunächst, daß die Gefahr besteht, daß eine geplante Wirtschaft eine Stellung im Menschenleben einnehmen kann, die alle Nachteile eines vergotteten Staates hat, und noch unmittelbarer vom Standpunkt des Nutzens aus angesehen wird. Wie läßt sich diese Gefahr beseitigen?

Ich gehe bei meiner Einstellung zu wirtschaftlichen Fragen von folgenden Grundsätzen aus, die ich Deiner Kritik anempfehle.

1. Die wirtschaftliche Betätigung ist ein Feld, auf dem jeder Einzelne eine Funktion zu erfüllen haben muß, damit er sich in sichtbarer und faßbarer Weise zu bewähren imstande ist und mit eigener Leistung zu dem körperlichen oder geistigen Wohl Aller beiträgt.

2. Das Ziel der wirtschaftlichen Betätigung Aller insgesamt ist:

a) dem Einzelnen die notwendigen Lebensgüter zu verschaffen,

b) dem Einzelnen einen gerechten Anteil an den überschüssigen Lebensgütern zu verschaffen,

c) dem Einzelnen die Möglichkeit zu geben, sich der Pflege der Schönheit – im allumfassenden Sinn – zu widmen.

Das Ziel der wirtschaftlichen Betätigung aller insgesamt ist es aber nicht,

a) Einzelnen einen ungerechten Anteil an den überschüssigen Lebensgütern zu verschaffen,

b) Einzelne, Viele oder Alle durch die Eröffnung großer Ablenkungsmöglichkeiten über ihre eigene inneren Unzulänglichkeiten hinwegzuhelfen, so daß sie es sich ersparen können, an ihrer eigenen Erziehung zu arbeiten,

c) zu produzieren, als Herrschaftsverhältnisse von Sachen über Menschen zu schaffen,

d) Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen zu schaffen.

3. Zweck der wirtschaftlichen Betätigung muß es sein, den Einzelmenschen freier zu machen, indem er sich über die Natur erhebt, nicht aber ihn unfreier zu machen, indem an Stelle einer Abhängigkeit von Sachen eine solche von Menschen tritt, die genau so groß ist, wenn man von einem Unternehmer abhängt, wie wenn man von einem Beamten abhängt.

4. Zweck der wirtschaftlichen Betätigung ist es, die Mittel für alle höheren Zwecke zur Verfügung zu stellen, ohne den Inhalt der höheren Betätigung bestimmen zu wollen.

Das höchste Ziel der wirtschaftlichen Betätigung — abgesehen von ihrem erzieherischen Wert — kann nur sein, der Befriedigung der Sinne — also im letzten Ende der Schönheit — zu dienen, ohne dafür mit der Forderung des Herzens nach Gerechtigkeit in Konflikt zu geraten und damit ohne den Einzel¬menschen in seiner Freiheit so zu beengen, daß er nicht imstande ist, Körper, Geist und Verstand frei und voll zu entwickeln.

Darf ich Dich bitten, mir zunächst einmal über die Sätze zu schreiben, die ich hier aufgestellt habe. Sind sie richtig oder falsch oder ergänzungsbedürftig oder zu kürzen? Wenn wir uns darüber geeinigt haben werden, werde ich Dich bitten, mit mir zu erörtern, welche Folgerungen man aus diesen Sätzen ziehen muß. Wenn Du Gerechtigkeit so definierst wie ich im vorigen Absatz, dann lautet das Thema, welches ich mit Dir erörtern möchte: welches ist die Manifestation der Gerechtigkeit in der Wirtschaft?

Stets Dein,

(Erst am folgenden Tage abgeschickt, vgl. auch Moltkes Brief vom 15. 7.1940 an Einsiedel.)

Quelle:
Ger van Roon: Neuordnung im Widerstand (München 1967), S. 478-479

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