Helmut Kohl und die deutsch-polnischen Beziehungen

19.07.2017  |  Nachruf

Der Warschauer Journalist und Publizist Adam Krzemiński schreibt über die polnische Rezeption von Helmuth Kohl, die Kreisauer Versöhnungsmesse als eine Ikone des geschichtlichen Wandels und darüber, was in den meisten Nachrufen und der medialen Debatte unbeachtet bleibt.

Von Adam Krzemiński

Die Kreisauer Versöhnungsmesse – eine Ikone des geschichtlichen Wandels

Auch in und um Kreisau gilt es, Helmut Kohl zu würdigen, wird doch die dortige „Versöhnungsmesse“ am 12. November 1989 mit der Umarmung des deutschen Bundeskanzlers und des ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Nachkriegspolens immer wieder als Ikone des geschichtlichen Wandels in den schwer belasteten deutsch-polnischen Beziehungen herangezogen. Sie hat zwar nicht die Aussagekraft wie das Bild des knienden Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Warschauer Ghettodenkmal, auch nicht die telegene Stärke des deutsch-französischen Händereichens über den Gräbern von Verdun, doch in die Ikonostase der deutschen Nachkriegsgesten gegenüber den vom Dritten Reich geschundenen Nachbarn wurde sie zu Recht aufgenommen.

Für seine Verdienste um die Vereinigung Deutschlands 1990 wurde Helmut Kohl – der sich selbst gerne als „Kanzler der Einheit“ feiern ließ – kurz nach seinem Tod von der FAZ als „Pater Patriae“ bezeichnet. Man hat ihn vorteilhaft mit Bismarck verglichen und als „Glücksfall für Deutschland und Europa“ gepriesen. Obwohl – und auch das war in den Nachrufen zu lesen, etwa in der ZEIT – der Euro, das Kohl’sche Kind, sich noch immer zu einem historischen Fiasko entwickeln könnte, wie zur Zeit Bismarcks die Annexion desselben Straßburg, in dem Helmut Kohl eine europäische Trauerfeier bereitet wurde.

Ein Pole ist von solcher Assoziation historischer Größe weitgehend frei. Auch bei gehöriger Beachtung des Gebotes, über Tote sage man nur Gutes, kann er dem Phänomen Helmut Kohl ohne jede Überschwänglichkeit begegnen. Insbesondere dann, wenn er die deutsch-polnischen Holz-und Umwege fünfzig Jahre lang – seit der Botschaft der polnischen Bischöfe („Wir vergeben und bitten um Vergebung“), den Querelen um die Oder-Neiße-Grenze und der ersten deutsch-polnischen Öffnung in den 1970er Jahren – mit recht offenen Augen selbst mitgegangen und sich der aktuellen Scheidewege Europas sehr bewusst ist.

Kohl und Polen – in vielen Nachrufen ein blinder Fleck

Es liegt wohl an den derzeitigen Spannungen zwischen der EU und der polnischen Regierung – etwa wegen der Aushebelung der Gewaltenteilung durch die national-konservative Regierung in Warschau – dass der polnische Faden in der sechzehnjährigen Kanzlerschaft Helmut Kohls in vielen Nachrufen und der medialen Debatte kaum beachtet wurde. Nichtsdestoweniger war Polen für den Pfälzer Katholiken, wie überhaupt für die westdeutschen Christdemokraten, zunächst ein harter nationaler Brocken und unbequemes parteipolitisches Problem. Die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Pflege des traumatischen Bewusstseins vom erlittenen Unrecht des Heimatverlustes gehörten jahrzehntelang zu den Mantras der CDU/CSU. Dann aber machten Christdemokraten durch ihre Stimmenthaltung die Ratifizierung des Grenzvertrages als „Übergangslösung“ möglich. Als 1989 die Revolution in Ostmitteleuropa das von Stalin nach 1945 aufgezwungene System erschütterte und die Tür zur Vereinigung Deutschlands und zur Aufnahme der bisherigen Ostblockstaaten in die euroatlantischen Strukturen öffnete, war in Bonn seit sieben Jahren eine christlich-liberale Koalition an der Macht. Dem Bundeskanzler und seinem Außenminister Genscher fiel eine Schlüsselrolle in dem historischen Prozess zu.

Helmut Kohl war ein ausgesprochener Westeuropäer. Er gehörte der „Flakhelfer-Generation“ an, war allerdings – anders als Grass oder Lenz – zu jung, um noch zum letzten Aufgebot eingezogen zu werden. Dennoch erlebte er den Krieg hautnah durch den Tod seines Bruders und die Bombennächte. Zu seiner prägenden Generationserfahrung gehörte dann Adenauers Politik der Westbindung der Bundesrepublik, mit dem Hochgefühl eines Zwanzigjährigen während der Grenzöffnung zu Frankreich und der Versöhnung mit dem „Erbfeind“ im Westen. Das war seine politische und mentale Welt.

Zum – vom Eisernen Vorhang abgetrennten – europäischen Osten hatte der christdemokratische Jungpolitiker keine unmittelbare Beziehung, aber – über seine Ehefrau Hannelore, eine Leipzigerin – zu „Mitteldeutschland“. Weder als Oppositionspolitiker in Bonn, noch als Ministerpräsident eines CDU-regierten Landes hielt er es für angebracht, Polen zu besuchen und es in seiner Geschichte und Realität kennenzulernen. Der Ostpolitik Brandts stand er – wie die Mehrheit in seiner Partei – kritisch gegenüber, er wetterte aber nicht gegen sie, und in Gesprächen mit polnischen Katholiken, die ihn besuchten, sprach er immer den Wunsch nach einer deutsch-polnischen Versöhnung aus. Als Kanzler setzte er nicht nur den umstrittenen NATO-Doppelbeschluss, sondern auch die Ostpolitik fort – allerdings mit einigen „nationaleren“ Akzenten. Zu den Regierenden in Warschau wahrte er Distanz wegen der Unterdrückung der Solidarność während des  Kriegszustands, entschied aber gegen eine Beteiligung der Bundesrepublik an den westlichen Sanktionen und ließ christdemokratische Politiker Kontakte zur Opposition in Polen knüpfen. Doch sein Gespür für die sich anbahnenden Prozesse in Osteuropa war durchaus begrenzt. Die Bedeutung der Perestroika in der UdSSR übersah er anfangs völlig und brüskierte Gorbatschow. Im Sommer 1989, nachdem die Solidarność die am Runden Tisch ausgehandelten Wahlen bereits grandios gewonnen hatte, verhinderte Helmut Kohl einen Polenbesuch des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 50. Jahrestag des deutschen Überfalls 1939 und schob seine eigene, längst überfällige Visite zeitlich so lange hinaus, dass die Vergangenheit von Gegenwart und Zukunft überschattet werden konnte.

Sinnbild für das Jahr 1989: Vom Mauerfall erfuhr Kohl in Warschau

Ausgerechnet in Warschau erfuhr der Bundeskanzler am 9. November 1989 von der Maueröffnung durch die DDR-Behörden. Noch kurz nach der Landung in Polen hatte er die Frage Lech Wałęsas, ob seine Regierung auf eine nahende Vereinigung Deutschlands vorbereitet sei, für Spinnerei gehalten. Als dann abends die Nachricht aus Berlin eintraf, unterbrach er seinen Polenbesuch und eilte zu den Berlinern, kehrte danach aber zurück und setzte seinen Besuch fort. Kein schlechtes Sinnbild für die deutsch-polnische Verquickung, die im 20. Jahrhundert über die ostmitteleuropäische Revolution des Jahres 1989 hinausreichte.

Helmut Kohl war kein Wundertäter in der deutschen und europäischen Geschichte. Die deutsche Einheit wurde nicht im Alleingang von einem märchenhafte Riesen herbeigeführt, sondern sie war das Ergebnis eines gewaltigen Prozesses in der europäischen Geschichte, der viele namentlich bekannte und noch mehr anonyme Akteure hatte – angefangen von der andauernden Aufruhr der Regierten im Ostblock, bis hin zu einer einmaligen, glücklichen personellen Besetzung der politischen und intellektuellen Szene von Moskau bis Washington. Der Bundeskanzler hatte während des Vereinigungsprozesses einen immer schwächeren Generalsekretär der KPdSU als Partner im Osten und im US-Präsidenten einen mächtigen Unterstützer im Westen. Doch sein historisches Verdienst ist das Beharren auf der Zugehörigkeit des vereinigten Deutschlands zur NATO sowie später seine Unterstützung der Osterweiterung der Allianz und der Europäischen Union. Er hatte nicht einen Hauch von Affinität für eine Abkoppelung vom Westen durch eine Neutralität Deutschlands, mit der schon Stalin 1952 gelockt hatte.

Aus der deutschen Perspektive war die Vereinigung Deutschlands 1990 eine Maßarbeit, an der Helmut Kohl wesentlich beteiligt war. Das europäisch eingebettete deutsche Glück hatte aber auch eine trübe europäische Kehrseite: Denn zur gleichen Zeit brach in Jugoslawien ein Nachfolgekrieg aus, dem die Europäer – mit Deutschland und danach Ostmitteleuropa beschäftigt – nichts entgegenzusetzen wussten. Keine europäische Perspektive erhielt die zerfallende Föderation, sondern vielmehr einen Ansporn zur Eskalation von Alleingängen.

Die deutsch-polnische Interessengemeinschaft – ein Werk der Vielen

Anders Deutsche und Polen. Der damalige polnische Außenminister Prof. Krzysztof Skubiszewski prägte im Februar 1990 das geflügelte Wort von einer seit 200 Jahren beispiellosen „deutsch-polnischen Interessengemeinschaft“: Polen unterstützt den Prozess der deutschen Einigung, Deutschland die polnische Hinwendung zum Westen. Ein gewaltiger Umschwung in der europäischen Geschichte, die im 20. Jahrhundert über Jahrzehnte von einem dramatischen existentiellen deutsch-polnischem Gegensatz –der gescheiterten Nachbarschaft nach dem Ersten Weltkrieg, dem deutsch-sowjetischem Überfall und der genozidalen Besatzungspolitik, von Grenzverschiebungen und Massendeportationen im und nach dem Zweiten Weltkrieg – geprägt worden war.

Der grandiose Wandel in den deutsch-polnischen Beziehungen war kein Geschenk des Himmels, sondern das Werk vieler Deutschen und Polen, die jahrzehntelang gegen die Klischees der Erbfeindschaft, die Kriegs- und Nachkriegstraumata ankämpften, sich für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und für Empathie mit dem „asymmetrischen“ Nachbarn einsetzten und schließlich in den 1970er und vor allem den 1980er Jahren in beiden Ländern eine Bewegung von unten zugunsten einer deutsch-polnischen Solidarität zustande brachten. Gunter Hofmann weist in seinem einfühlsamen Buch „Deutsche und Polen. Der Weg zur europäischen Revolution 1989“ nach, dass ohne diese Vorarbeit der große Umbruch in Europa gerade diese Nachbarn auf dem falschen Fuß hätte erwischen können. Nicht auszumalen, wie die europäische Geschichte verlaufen wäre, wenn 1989 in der Solidarność ewiggestrige Nationalkonservative das Sagen gehabt hätten. Polen hätte die deutsche Einheit sicherlich nicht verhindern, aber lange stören und letztendlich auch diese Nachbarschaft für lange Zeit vergiften können. Dazu ist es nicht gekommen.

Schlingerkurs bei der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze

Und dennoch kam es im Prozess der deutschen Vereinigung zu deutsch-polnischen Spannungen. Die latenten Ängste vor einem übermächtigen Nachbarn in Polen schürte leider ausgerechnet Helmut Kohl bereits im Dezember mit seinem 10 Punkte-Programm, weil darin der 11. Punkt – die Grenzfrage – fehlte. Es war ja die CDU/CSU, die auf dem deutschen Rechtsstandpunkt beharrt hatte und Willy-Brandts Anerkennung der Grenze für bedingt und nur für die Bonner Republik verbindlich hielt. Nun wäre es angebracht gewesen, von vornherein zu versichern, dass die Grenze auch für das vereinte Deutschland gelten würde. Das hat Kohl versäumt. Auch später – im Frühjahr 1990 – und trotz des massiven Drucks sowohl vonseiten der Alliierten als auch des Bundespräsidenten, des Außenministers und sogar einiger Parteifreunde schlingerte er in der Grenzfrage. Angeblich, um die Wählerschaft der Vertriebenen nicht zu verprellen. Privat versicherte er Tadeusz Mazowiecki, dass die Anerkennung unumgänglich sei, doch taktisch war ihm die Parteipolitik wichtiger als ein standhaftes Bekenntnis gegenüber dem Nachbarn. Dass es für ihn dabei um mehr ging als nur die Bundestagswahlen 1990, bezeugt die Tatsache, dass seine Handschrift zwar unter dem großen Freundschaftsvertrag von 1991, nicht aber unter dem endgültigen Grenzvertrag von 1990 zu finden ist. Diesen Vertrag unterschrieb Hans-Dietrich Genscher, der schon dem Kabinett Willy Brandts angehört hatte. Der „Kanzler der Einheit“ wollte – vielleicht auch im Sinne der „Gnade der späten Geburt“ – in den Geschichtsbüchern nicht mit dem Verzicht auf ein Fünftel des deutschen Vorkriegsterritoriums assoziiert werden, sondern mit seinem „Blick in die Zukunft“ Deutschlands und Europas.

Das besondere Erfolgsrezept des politischen Phänomens Helmut Kohls findet der Historiker Gregor Schöllgen im direkten Kontakt, in der Unterredung, dem Telefonat oder gelegentlich auch mal in einer Frotzelei unter Partnern. So scherzte der Kanzler gelegentlich, die Teilnehmer der Gipfelgespräche sollten „häufiger gemeinsam Bus fahren“, denn „was im privaten Umgang miteinander richtig ist, ist auch in der Politik richtig“. Nach den verlorenen Wahlen 1998 erwies sich infolge der „schwarzen Konten“, dass diese Betonung von persönlichen Beziehungen in der Innenpolitik auch eine fragwürdige Seite hatte. Doch in der europäischen Politik half diese Kontaktpflege, Vertrauen aufzubauen, Hürden zu überspringen und Spannungen abzuschwächen.

Persönliche Beziehungen erfordern jedoch Zeit, politische Stabilität und vergleichbare Potentiale. Es war einfach, ein freundschaftliches Miteinander mit einem französischen Präsidenten aufzubauen, zu dessen Land schon seit Jahren eingefahrene Modalitäten der europäischen Zusammenarbeit und Verantwortung bestanden und der selbst eine planbare Amtsperiode hinter und vor sich hatte. Schwieriger war dies mit Verantwortlichen aus einem weniger vertrauten Land, das sich gerade in einer revolutionären Phase befand, wo vieles im Fluss und das Personalkarussell unvorhersehbar war.

So hatte das System Kohl in den deutsch-polnischen Beziehungen auch seine Schwächen. Zu keiner der polnischen Persönlichkeiten konnte der Bundeskanzler ein besonders enges persönliches Verhältnis aufbauen. Zum einen, weil sich die polnische politische Szene seit 1989 zu abrupt drehte, zum anderen, weil die Probleme, die die beiden Nachbarn zu bewältigen hatten, zu gewichtig waren, um sie aufs Geratewohl persönlichen Versprechen zu überlassen oder sie aus taktischen innenpolitischen Gründen auszusitzen bzw. auszuklammern. Kohl war sich der abzutragenden Last der Geschichte durchaus bewusst. Dem polnischen Botschafter Janusz Reiter sagte er, dass er sehr wohl wisse, was es bedeute, der erste Kanzler Gesamtdeutschlands nach Hitler zu sein. Doch zugleich war der Kreis seiner polnischen näheren Bekannten nicht allzu groß. Er schätzte Władysław Bartoszewski sehr und sprach mit ihm gelegentlich, und er zitierte Andrzej Szczypiorski. In Tadeusz Mazowiecki hatte er aber einen schwierigen Partner, weil der polnische Ministerpräsident sich in der Grenzfrage nicht mit privaten Beteuerungen zufriedenstellen wollte und konnte. Trotz der „Umarmung von Kreisau“ entstand dann zwischen den beiden Katholiken auch kein überschwängliches Verhältnis.

Es ist schon bezeichnend: Nach seinem Polen-Besuch 1989 und seinem Abendessen mit Tadeusz Mazowiecki auf der polnischen Seite der Oder im November 1990, wenige Tage vor dem „kleinen“ Grenzvertrag, besuchte Kohl Polen kein einziges Mal mehr als amtierender Bundeskanzler. Erst später –  a. D. – war er in Breslau und Krakau. In seiner Amtszeit fiel das so sehr auf, dass sich in Polen und in Deutschland Stimmen zu Worte meldeten, dass doch zumindest eine „Zwischenlandungsdiplomatie“ angebracht wäre. Eine der Erklärungen für diese Abstinenz könnte sein, dass die Mannschaften in Warschau zu schnell wechselten, eine andere, dass gelegentliche Gespräche in Bonn mit aufstrebenden nationalkonservativen Politikern wie Jarosław Kaczyński zu enttäuschend ausfielen Mit den postkommunistischen Sozialdemokraten wiederum hätte der Christdemokrat nicht so gerne über Gott und die Welt plaudern wollen.

Der Nachbarschaftsvertrag – Tragbalken im Fachwerk des europäischen Hauses

Das historische Werk Helmut Kohls in den deutsch-polnischen Beziehungen, das er auch am 17. Juni 1991 eigenhändig signierte, ist der „große“ deutsch-polnische „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“. Ausgehandelt noch zur Zeit der Mazowiecki-Regierung wurde er auf der polnischen Seite bereits von seinem Nachfolger unterzeichnet, einem jungen „Danziger Liberalen“, Jan Krzysztof Bielecki, der selbst nur kurz Regierungschef war.

Es ist müßig, heute darüber zu spekulieren, inwiefern die Lücken und Unterlassungen des „großen Vertrages“ manche der späteren deutsch-polnischen Irritationen mitverursacht haben. Dieses Vertragswerk ist ein Tragbalken nicht nur der deutsch-polnischen Beziehungen, sondern des gesamteuropäischen Fachwerks. In ihn wurde eine detaillierte institutionelle Struktur und Verflechtung der deutschen und polnischen Gesellschaften hineingeschrieben, die sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert als wetterfest erweist. Einiges darin war aus der erfolgreichen Struktur der deutsch-französischen Zusammenarbeit übernommen worden: Regierungskonsultationen, Städtepartnerschaften, Jugendwerk. Doch das meiste ist auf dem Nährboden der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft des Jahres 1989 gewachsen, bis hin zu der Verpflichtung Deutschlands, Polen bei seinen „Weg nach Westen“ in NATO und EU beizustehen. Diese Verpflichtung erfüllten sowohl Helmut Kohl als auch sein Nachfolger Gerhard Schröder. Trotz aller späteren Spannungen – vor allem um die deutsche Musealisierung der Vertreibungen und Entschädigungen für die polnischen KZ-Häftlinge – und trotz der politischen Zerwürfnisse um den Irak-Krieg 2003, die Ostseepipeline 2005 und die Flüchtlingskrise nach 2015, bis hin zur aktuellen regionalen „Diversifizierungen“ innerhalb der EU und der NATO.

Die heutigen Friktionen in Europa kann man schlecht den Gründungvätern der europäischen  Einigung nach 1989 zuschreiben. In der neuesten Nummern der einst von Tadeusz Mazowiecki geleiteten katholischen Zeitschrift „Więź“ kann man zur polnischen Politik der Nationalkonservativen bittere Worte lesen: „Das Verhältnis zu Deutschland, unserem größten Wirtschaftspartner, das einst die polnische Integration unterstützt hat, bleibt korrekt –vor allem dank der Geduld von Angela Merkel. Zwischen Warschau und Paris ist es frostig. Mit der Wiederbelebung eines Schlüsselinstruments zur Abstimmung der auf europäischer Ebene zu regelnden, für uns wichtigen Fragen, wie es das Weimarer Dreieck war, ist heute kaum zu rechnen. Aus den ‚großen Sechs’ der Gemeinschaft haben wir uns selbst herauskatapultiert.“

Helmut Kohl übertitelte seine Erinnerungen 1996 national „Ich wollte Deutschlands Einheit“. Und es stimmt auch, dass er nach der Maueröffnung die Einigung Deutschlands maßgeblich ins Werk gesetzt hat. Doch wohl nicht nur aus polnischer Perspektive ist seine eigentliche Lebensleistung das Europaprojekt, dem wir hoffentlich alle verpflichtet bleiben.

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